Rote Fahne 18/2021

Rote Fahne 18/2021

Das Volk in Afghanistan kann sich nur selbst befreien

Menschen, die versuchen, den faschistischen Taliban zu entkommen und von US-Soldaten mit Schüssen vom Flughafen in Kabul ferngehalten werden, die sich sogar an abhebende Flieger klammern und in die Tiefe stürzen …

Von jg/ms
Das Volk in Afghanistan kann sich nur selbst befreien
Foto: Trent Inness, shutterstock_2025653837

Dass so ein Militärfeldzug endet, der stets als Rettung für das Volk von Afghanistan gepriesen wurde, das macht viele Menschen fassungslos und wütend. Es ist ein gigantisches Debakel der imperialistischen Besatzungspolitik. Die Bundesregierung steht massiv in der Kritik. Wie konnte es dazu kommen, dass die Taliban so schnell vorrücken und die NATO-Truppen entgegen ihrer Ankündigung fliehen – wie nach dem Vietnamkrieg aus Saigon? Was sind die Ursachen? War der Einsatz am Anfang richtig und nur das Ende falsch? Dazu gibt es zahlreiche Deutungen. Umso wichtiger ist ein klarer Blick, wozu man weltanschaulich vom Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus an das Problem herangehen muss. Die afghanische ICOR-Organisation MLOA1 veröffentlichte auf ihrer Webseite eine Stellungnahme der afghanischen Volksbefreiungsorganisation SAMA vom 17. August, die aufruft: „Die kämpferische Einheit und Mobilisierung unseres Volkes gegen Imperialismus und Reaktion ist das Gebot der Stunde!“         

 

Das Debakel in Afghanistan ist die schwerste Niederlage der NATO seit Vietnam. Am 30. April 1975 holten Hubschrauber die letzten in Saigon verbliebenen US-Amerikaner und hochrangige Angehörige der südvietnamesischen Regierung vom Dach der US-Botschaft. Die vietnamesische Volksbefreiungsarmee hatte den bis an die Zähne gerüsteten US-Imperialismus vernichtend geschlagen, der seit 1964 mit äußerster Brutalität gegen den Befreiungskampf vorgegangen war. Anders als in Vietnam haben in Afghanistan keine revolutionären Kämpfer gesiegt, sondern die islamistisch-faschistischen Taliban-Milizen. Dennoch offenbart auch diese Niederlage die strategische Schwäche des Imperialismus.

Wie konnte es zu dem Debakel kommen?

Die MLPD hat die imperialistische Besetzung Afghanistans stets verurteilt. Sie beteiligte sich 2001 aktiv an den Protesten gegen den Einmarsch und rief zu Dienstagsdemonstrationen auf. Mit den Großdemonstrationen am 13. Oktober 2001 in Berlin und Stuttgart mit rund 80 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern formierte sich eine neue, selbständige Friedensbewegung, die sich besonders gegen die Beteiligung der Bundeswehr richtete. Auch in Afghanistan gab es immer wieder Proteste gegen die Besatzung. Im Februar 2011 forderten Demonstranten in Kabul den Abzug aller ausländischen Truppen und riefen Parolen gegen die USA und die Karzai-Regierung.2 Oft richteten sich Proteste gegen Massaker an der Zivilbevölkerung – wie 2012, als bei einem NATO-Luftangriff acht Frauen und Kinder getötet wurden.3 Am Vorabend des 16. Jahrestags des imperialistischen Einmarschs demonstrierten in Kabul am 6. Oktober 2017 Mitglieder und Unterstützer der Solidarity Party of Afghanistan. Sie trugen Transparente mit Aufschriften wie: „Mit der USA, NATO und ihren Lakaien wird es in Afghanistan keinen Frieden und kein Wohlergehen geben!“4

 

Um von der entscheidenden Rolle der Massen und ihrer Ablehnung der imperialistischen Besatzung abzulenken, werden jetzt zahlreiche Erklärungen für die Niederlage der NATO aufgetischt: Man hätte eben noch mehr für die Menschen tun müssen; den afghanischen Soldaten fehlte es an Kampfmoral; der schnelle Vormarsch „sei von langer Hand geplant“ gewesen ... Die Mehrheit der Menschen in Afghanistan wollte aber keine Almosen der Besatzer, sondern ihren Abzug. Seit 2020 trug die afghanische Armee die Kriegsführung am Boden nahezu allein. Die Bezahlung und Verpflegung der Soldaten war schlecht oder blieb teilweise ganz aus, während sich höhere Offiziere mit Geld aus den Soldkassen schon mal vorsichtshalber Immobilien im Ausland kauften.5 Der Abzug der ausländischen Truppen war zwar geplant, aber keineswegs so hektisch. Schockiert mussten afghanische Kommandeure Anfang Juli feststellen, dass die letzten US-Soldaten ihre Luftwaffenbasis in Bagram über Nacht verlassen hatten.6

 

Ein weiterer Grund für den schnellen Sieg der Taliban ist, dass sie sich einen antiimperialistischen Nimbus gaben und vortäuschten, im Interesse des Volks gegen die Besatzung zu kämpfen. Als scheinbarer Gegenpol zu den herrschenden Zuständen erlangten sie in Teilen der Bevölkerung Rückhalt.

Taliban geläutert?

Dass sich die Taliban-Führer aktuell einen moderateren Anstrich geben und großzügig versprechen, dass sie auch Berufstätigkeit von Frauen dulden würden, darf nicht über ihren wahren Charakter hinwegtäuschen. Die Taliban waren und sind eine faschistische, islamisch verbrämte Bewegung, die ein feudales Regime nach der Scharia7 errichten wollen. Das entspricht den Interessen von Grundbesitzern und Warlords im Land, vor allem aber auch den Interessen verschiedener neuimperialistischer Länder wie Katar und Vereinigte Arabische Emirate, die sie mit Geld und Waffen versorgen.8

 

Allerdings sind die Taliban auch keine einheitliche Kraft. Ein Teil wird heute von Pakistan unterstützt, eine andere Fraktion vom Iran. Es gibt zahlreiche Berichte, dass sie auch jetzt Frauen schlagen, wenn sie nicht verschleiert sind, und fortschrittliche Menschen verhaften und ermorden. Die Bundesregierung heuchelt ihre Abscheu davor. Dabei hat sie – ebenso wie deutsche Monopole – keine Probleme, mit genauso finsteren Regimes in Saudi-Arabien oder im Iran zusammenzuarbeiten. Auch die reaktionären afghanischen Regierungen der letzten 20 Jahre, mit denen die Bundesregierung jahrelang kooperierte, waren nie eine demokratische Alternative zu den Taliban. Sie wendeten selbst die Scharia an – vor allem gegen Frauen.

Besatzung richtig, nur ihr Ergebnis katastrophal?

Bundeskanzlerin Angela Merkel räumt zwar „Fehler“ bei der Reaktion auf den schnellen Vormarsch der Taliban ein, hält aber an der Rechtfertigung der Besatzung Afghanistans fest: „Wir wollten möglichst vielen Menschen … ein freies, ein gutes und selbstbestimmtes Leben ermöglichen.“ Wieso wurde dann in Kauf genommen, dass über 240 000 Menschen durch die Besatzung gestorben sind?9 Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut, darunter etwa zehn Millionen Kinder. Das Welternährungsprogramm (WFP) schätzt, dass rund 14 Millionen Menschen nicht genug zu essen haben. Auch die faschistischen Taliban wurden keineswegs konsequent bekämpft, es gab immer wieder Verhandlungen und Absprachen mit ihnen.

 

Jeder Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, lehrte schon der Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz (1780–1831). Die offizielle Version der Gründe des Afghanistan-Kriegs war ein konstruierter Vorwand. Angeblich marschierten die USA 2001 deshalb in Afghanistan ein, um nach den menschenverachtenden faschistischen Anschlägen vom 11. September in New York den „Krieg gegen den Terror“ zu eröffnen. Die US-Regierung präsentierte Al-Kaida-Chef Osama bin Laden als deren Drahtzieher, der sich in Afghanistan aufhalten würde. Rasch wurde so ein NATO-Bündnisfall konstruiert. Die von der damaligen SPD/Grünen-Regierung entsandten Bundeswehr-Einheiten stellten lange Zeit das nach den USA zweitgrößte Kontingent in der NATO-Truppe10. Während der grüne Außenminister Joschka Fischer im Bundestag davon fabulierte, dass nun die „schweren Menschenrechtsverletzungen sowie vor allen Dingen die Unterdrückung der Rechte der Frauen und Mädchen“ beendet würden, brachte Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) die Gründe schon deutlicher auf den Punkt: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“11

 

Tatsächlich war die Besatzung schon Monate vor den Anschlägen geplant, was der US-Sender NBC am 16. Mai 2002 enthüllte.12 Die Westfälische Rundschau schrieb am 17. Juli 2007: „Die Feuer in den Metro-Schächten waren noch nicht verloschen, da öffneten EU-Beamte in Brüssel eine Schublade, in der ein europäischer Anti-Terror-Pakt längst bereit lag.“13 In Wirklichkeit ging es dabei um eine verstärkte Ausrichtung der imperialistischen Kriegsführung auf die Liquidierung organisierter antiimperialistischer und revolutionärer Kräfte.

 

Die Besetzung Afghanistans zielte zudem auf die Beherrschung einer strategisch wichtigen Region in unmittelbarer Nachbarschaft zu Ländern wie China, Iran und Indien, die heute zu neuimperialistischen Staaten aufgestiegen sind: „Die US-Invasion dient der Besetzung einer wirtschaftlich und strategisch wichtigen Region im Mittleren Osten und Zentralasien. In der Region um Afghanistan und den anliegenden Ländern lagern zirka 75 Prozent der Weltölreserven und 33 Prozent der Erdgasreserven. … Dabei geht es um nichts anderes als die Neuverteilung der imperialistischen Macht- und Einflusssphären.“14

 

Afghanistan ist reich an Bodenschätzen, unter anderem Kupfer, Gold, Molybdän, Bauxit und seltene Erden. In zwölf Kupferminen arbeiten Zehntausende Bergleute und es gibt eine wachsende Erdöl- und Erdgasindustrie. Die Arbeiter haben dort in der Vergangenheit bereits Proteste und Streiks organisiert und können in den kommenden Kämpfen eine wichtige Rolle spielen. Es werden Bodenschätze im Wert von vielen Hundert Milliarden Euro vermutet. Eine wachsende Rolle spielt das Lithium als notwendiger Rohstoff unter anderem für Elektroantriebe in der Autoindustrie. Die US-Behörde United States Geological Survey sprach schon 2010 von Afghanistan als dem „Saudi-Arabien des Lithiums“.15

Imperialistisches Geschacher um Afghanistan

Da sich die Niederlage der westlichen Imperialisten in Afghanistan schon länger abzeichnete, suchte die US-Regierung einen Deal. Der jetzige Führer der Taliban, Abdul Ghani Baradar, kam auf Druck von Ex-Präsident Trump 2018 aus pakistanischer Haft frei, weil er zu „Friedensverhandlungen“ mit den USA bereit war. Am 29. Februar 2020 unterzeichneten der US-Sondergesandte Zalmay Khalizad und Baradar im katarischen Doha ein sogenanntes „Friedensabkommen“. Das Dokument regelt die Machtübergabe an die Taliban. Die USA verpflichteten sich, alle Koalitionstruppen abzuziehen, zuerst 5000 und dann alle weiteren inhaftierten Taliban freizulassen sowie „positive Beziehungen“ anzustreben. Zugleich wurde einer neuen afghanischen Regierung wirtschaftliche Zusammenarbeit zugesagt und Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten. Die Taliban verpflichteten sich lediglich, die USA nicht anzugreifen und konkurrierende Faschisten wie Al-Kaida nicht zu dulden.16 „Wir hoffen, dass er die Wahl gewinnt und die US-Militärpräsenz in Afghanistan abwickelt“, lobte ein ranghoher Talibanführer kurz vor der US-Präsidentschaftswahl im November 2020 Donald Trump.17 Der Doha-Deal trug zum atemberaubenden Tempo des Vormarsches der Taliban bei.

 

Der Abzug der USA und weiterer NATO-Länder beschleunigt die Machtverschiebungen im imperia­listischen Weltsystem. Besonders das neuimperialistische China ist an der Ausplünderung der Bodenschätze beteiligt und will nach Abzug der US- und NATO-Truppen den ersten Platz einnehmen. Ende Juli traf sich der chinesische Außenminister Wang Yi in Tianjin mit Baradar.18 Pakistan unterstützt die Taliban schon lange finanziell und logistisch. Grundlage ist die Konkurrenz zum neuimperialistischen Indien, das seinerseits in Afghanistan Al-Kaida und andere Konkurrenten der Taliban unterstützt. Die allgemeine Kriegsgefahr wächst.

Was kann man tun?

Viele Leute wollen helfen, aber wie? Wenn es eine Lehre aus Afghanistan gibt, dann die, dass die Völker sich nur selbst befreien können. Mutig erklären die Kämpferinnen der afghanischen Frauenorganisation RAWA: „Wir bleiben im Land und kämpfen.“ Die Bilder couragierter Frauen, die am 19. August – dem Tag der Freiheit – protestierten, gingen um die Welt. In Dschalalabad demonstrierten am 18. August hunderte Menschen gegen die Machtübernahme der Taliban. Dabei wurden mindestens drei Menschen getötet. Protestierende in Asadabad im Nordosten des Landes attackierten auch Taliban-Milizionäre. In Kabul und weiteren Städten gab es Aktionen mit afghanischen Flaggen als Protestsymbol. Zur Entscheidung, den schwierigen und illegalen Kampf gegen die neue faschistische Herrschaft aufzunehmen, gehört unbedingt das Recht auf Flucht, damit sich fortschrittliche und revolutionäre Kämpfer, aber auch andere bedrohte Menschen notfalls in Sicherheit bringen können.

 

Dem CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet fiel nach der Eroberung von Kabul durch die Taliban als erstes ein: „2015 darf sich niemals wiederholen.“ Noch eine Woche vor der Übernahme von Kabul durch die Taliban schob die CDU/SPD-Bundesregierung gnadenlos Flüchtlinge in das angeblich „sichere“ Afghanistan ab. Das ist das wahre Gesicht der mörderischen deutschen Bürokratie unter Führung von Innenminister Seehofer, Außenminister Maas und Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer. In auffälligem Kontrast dazu steht die Aufregung um das Drama am Kabuler Flughafen. Sie galt einzig der Rettung beziehungsweise dem Zurücklassen der sogenannten Ortskräfte – also vor allem von Kollaborateuren der Besatzungsmacht. Die ganzen Jahre flohen Hunderttausende auf anderen Wegen aus Afghanistan, ohne dass regierungsamtlich ein Hahn danach krähte.

Nach den Wahlen aufarbeiten? Nein!

Alle Monopolparteien sind nun angeschlagen, alle waren an dem Desaster beteiligt. Jetzt versprechen sie „Aufarbeitung“, aber natürlich so „gründlich“, dass es bis mindestens nach den Bundestagswahlen dauert. Die Zeit der Aufarbeitung ist jetzt und gehört mitten in den Bundestagswahlkampf. Während die bürgerlichen Parteien Nebelkerzen zünden, sprechen die Kandidatinnen und Kandidaten der Internationalistischen Liste/ MLPD Klartext. Sie benennen die Ursachen dieses Desasters im imperialistischen System. Sie stehen für die Forderung nach Abzug aller imperialistischen Truppen aus Auslandseinsätzen und für das Recht auf Flucht auf antifaschistischer Grundlage. Eine Stimme für sie ist eine Stimme für den Frieden und für die Selbstbefreiung der Völker.

 

Die MLPD ist Mitglied der revolutionären Weltorganisation ICOR, die den Aufbau revolutionärer Organisationen in allen Ländern der Welt fördert und unterstützt. Gemeinsam mit der ICOR treibt die MLPD den Aufbau der internationalen antiimperialistischen und antifaschistischen Einheitsfront voran. Die Solidarität mit dem Kampf des afghanischen Volks und die Forderung nach Abzug aller imperialistischen Truppen aus dem Ausland werden beim diesjährigen Antikriegstag am 1. September mit im Zentrum stehen. Die MLPD und das Internationalistische Bündnis werden das zum Thema machen. Deswegen: Stärkt und wählt die Internationalistische Liste / MLPD!