Rote Fahne 02/2022
Droht Krieg zwischen Russland und der NATO?
Rund 100 000 Soldaten hat Russland mittlerweile an der ukrainischen Grenze konzentriert.
Sie stehen einer aufgerüsteten ukrainischen Armee und verstärkten NATO-Kampfverbänden in Osteuropa gegenüber, die in erhöhten Alarmzustand versetzt sind. Mit dieser Eskalation gehen verbale Drohungen einher. Ist das alles nur Säbelrasseln oder ist ernste Sorge angebracht? Wer keine Fake News, sondern Antworten will, muss sich mit den ökonomischen, politischen und weltanschaulichen Hintergründen der gegenwärtigen Zuspitzung befassen.
Tatsächlich ist die russische Truppenkonzentration mit Panzern und schweren Waffen in der Nähe der Ukraine und die Durchführung von Manövern mehr als nur eine Provokation, sondern birgt die reale Möglichkeit eines Einmarschs in die Ukraine. Die mit Abstand stärkste Streitmacht der Welt – die US-Armee mit ihren NATO-Verbündeten – ist bis an die russischen Westgrenze vorgerückt und beansprucht globale Dominanz. Es ist nicht auszuschließen, dass in einer solchen Situation ein osteuropäisches NATO-Land militärisch eingreift und damit den NATO-Bündnisfall provoziert. Die allgemeine Gefahr eines direkten Aufeinandertreffens gegnerischer imperialistischer Blöcke und damit eines dritten Weltkriegs würde sich dadurch verschärfen.
Die von der NATO und EU vorgeschobene Ukraine rüstet enorm auf und fordert mehr und mehr Waffen von ihren imperialistischen Bündnispartnern. Sie hat selbst 250 000 Soldaten direkt unter Waffen, 400 000 weitere als Reservisten und Angehörige von Kampfverbänden, zum Teil faschistischen wie dem Asow-Regiment. Nach Robert Habeck von den Grünen hat sich jetzt auch der verteidigungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Marcus Faber, für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Dass er dies auf „defensive Hilfsmittel“ wie Helme und Drohnenabwehrsysteme „beschränken“ will, ändert nichts daran, dass auch diese zur Kriegsführung benötigt werden. Schon Habeck stieß auf energischen Widerspruch anderer Grünen-Politiker wie etwa der abrüstungspolitischen Sprecherin Katja Keul: „Ich halte es nach wie vor für richtig, dass die Bundesregierung keine Waffen in Kriegsgebiete liefert.“1
Henne oder Ei? Beide heißen Imperialismus!
In der Bild am Sonntag behauptet Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD): „Ganz klar: Der Aggressor ist Russland.“ Das ist dreist! Jeder kennt den uralten Streit: War die Henne zuerst da oder das Ei? In diesem Fall wird ständig diskutiert, ist die NATO mit ihrer ständigen Osterweiterung oder Russland mit seinem Truppenaufmarsch der Aggressor? Beide sind waffenstarrende imperialistische Mächte, die in einem erbitterten Konkurrenzkampf untereinander und mit anderen imperialistischen Mächten stehen!
Mit dem Zerfall der Sowjetunion verblieben die USA als einzige Supermacht, die ihre Vorherrschaft nicht nur militärisch, sondern ganz wesentlich ökonomisch durch Kapitalexport und weltmarktbeherrschende Monopole weiter ausdehnte. Der Bankrott der bürokratischen Kapitalistenklasse Ende der 1980er-Jahre wurde von den westlichen Imperialisten früh als „Chance“ erkannt, ihren Einfluss nach Osten auszudehnen und neue Märkte zu erobern. Die Neuorganisation der internationalen Produktion erbrachte einen einheitlichen Weltmarkt, aber im Rahmen dieser „neuen Weltordnung“ von Anfang an heftige zwischenimperialistische Widersprüche.
Wenn der bisherige Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, in der Süddeutschen Zeitung behauptet, „das Geraune über anders lautende westliche Versprechungen im Jahre 1990 ist eigentlich … seit 1997 endgültig vom Tisch: Russland hat die Nato-Erweiterung schriftlich akzeptiert“2, so ist dies nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich gab es mündliche Zusagen von deutschen Politikern und Militärs, keine NATO-Truppen in Osteuropa zu stationieren. So sagte der damalige deutsche NATO-Generalsekretär Manfred Wörner 1990: „Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“3 Auch in der als Absichtserklärung verfassten Grundakte gibt die NATO vor, von der Stationierung von Kampftruppen in neuen Mitgliedsstaaten abzusehen. In Wirklichkeit wurde aber schon 2002 eine schnelle Eingreiftruppe der NATO aufgestellt und 2015 um eine Einsatzgruppe (VJTF) von bis zu 20 000 Soldaten erweitert, die in Osteuropa operiert.
Mit diesem aggressiven Vorgehen reagieren die westlichen Imperialisten mit dem Hauptkriegstreiber USA an der Spitze provokativ auf die Veränderung der weltweiten Kräfteverhältnisse. Mit der Herausbildung neuer imperialistischer Länder und der Krise der Neuorganisation der internationalen Produktion ist die bisherige Dominanz der G74 sowie der NATO- und EU-Verbündeten in Frage gestellt. In diesem Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist auch das Beitrittsangebot der NATO 2008 an die Ukraine und Georgien einzuordnen, das Russland stets abgelehnt hat und das auch eindeutig früheren mündlichen oder schriftlichen Zusicherungen widerspricht.
„Selbstbestimmungsrecht“ der Ukraine?
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verweist demagogisch auf das „Selbstbestimmungsrecht“ der Ukraine in der Frage eines NATO-Beitritts. Als ob es hier auch nur im Geringsten um die Selbstbestimmung des ukrainischen Volks ginge. Die westlichen Imperialisten treiben die Einverleibung des Landes in ihr Einflussgebiet seit über 20 Jahren systematisch voran und haben dabei kein einziges Mal nach der Meinung der Arbeiter und breiten Massen in der Ukraine gefragt. Dass das NATO-Mitglied Türkei das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volks mit Füßen tritt, hat noch nie zu einem Aufschrei bei den Verbündeten geführt.
In den bürgerlichen Medien und im Internet hat bereits ein Informationskrieg begonnen, der die Absicht verfolgt, die Massen auf die jeweilige Seite zu ziehen. Man kann sich als friedliebender Mensch aber heute weder auf die Seite Russlands, noch auf die Seite der EU/NATO stellen. Beide verfolgen imperialistische Ziele und haben auf verschiedenen Kriegsschauplätzen, wie in Afghanistan, in der Ost-Ukraine, auf der Krim oder in Libyen deutlich gemacht, dass sie diese in der Konsequenz mit militärischen Mitteln durchsetzen werden. Die MLPD hat dagegen die Losung „Gegen jede imperialistische Aggression!“ aufgestellt. Wer wirklich durchblicken will, kann sich nicht in den Schlepptau bürgerlicher Meinungsmanipulation begeben. Stattdessen sind die Bücher „Krieg und Frieden und die sozialistische Revolution“ oder „Götterdämmerung über der ,neuen Weltordnung‘“ eine anspruchsvolle, aber gut verständliche hervorragende Grundlage zur selbstständigen Orientierung (siehe Seite 2).
Baerbock setzt grüne Kriegspolitik fort
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) versieht ihr forsches Auftreten als neue Klassensprecherin der westlichen Imperialisten gegenüber Russland und China mit dem Nimbus einer „wertebasierten“ Außenpolitik. „Wertebasiert“ klingt erstmal so, als ob hier ein ethisch-moralischer Kompass die Politik leiten würde statt dem schnöden Mammon oder dem Streben nach Macht und Einfluss. Aber was für Werte sollen das denn sein? Unter dem Vorwand des „Schutzes der Frauenrechte“ – federführend vom damaligen grünen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, vertreten – erlitten und erleiden die afghanischen Frauen unermessliches Leid. Mit der Begründung „Schutz vor Massenvernichtungswaffen“ wurde der Irak überfallen und wird heute dem neuimperialistischen Iran gedroht. Im „Krieg gegen den Terror“ wurden Millionen Menschen ihrer demokratischen Rechte und Freiheiten beraubt, in Geheimgefängnissen gefoltert und von Kampfdrohnen liquidiert. In der innigen Kumpanei mit der faschistisch regierten Türkei, aber auch mit zahlreichen anderen reaktionären, faschistoiden Regimes wie in Saudi-Arabien, Ägypten oder Philippinen sind die vollmundig deklarierten hehren Werte doch nur Petersilie auf dem Fleischbrocken, den man verspeisen möchte. Welche Funktion Werte für Baerbock tatsächlich haben, offenbart sie in einem Interview: „Für uns sind Werte und Interessen kein Gegensatz, vielmehr hängt beides unmittelbar zusammen. … Wenn nur europäische Unternehmen Arbeitnehmerrechte und faire Wettbewerbsstandards einhalten müssen, Firmen aus Drittstaaten wie China aber nicht, haben unsere Unternehmen einen absoluten Wettbewerbsnachteil. Das können wir auch aus ökonomischen Interessen nicht akzeptieren.“ 5 Also doch nur schnöder Mammon, Macht und Einfluss. Die „Werte“ sind dann nur noch Zierde für eine sozialchauvinistische Politik. Man sollte nie vergessen, dass auch die SPD-Führung schon einmal zum Burgfrieden mit der deutschen Bourgeoisie aufgerufen hat und dazu beitrug, Arbeiter irrezuleiten, die freudig in den I. Weltkrieg ziehen sollten.
Revisionisten auf dem Holzweg
Der Vorsitzende der DKP, Patrik Köbele, versteigt sich sogar zu der Aussage: „Die russische Außenpolitik ist sicherlich nicht bewusst antiimperialistisch – objektiv ist sie es aber.“6 Indem er die russische Außenpolitik angesichts der rücksichtslosen russischen Kriegseinsätze in Libyen, Syrien, Mali, Georgien und eben in der Ukraine als antiimperialistisch bezeichnet, macht sich Köbele zu Putins Sprechpuppe. Wenn ein Räuber dem anderen die Fresse poliert, wird er ja nicht gleich zum Robin Hood. Das Hauen und Stechen der Imperialisten und Kapitalisten untereinander hat rein gar nichts mit dem antiimperialistischen Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu tun.
Ein wesentlicher neuer Widerspruch zwischen Russland und den USA hat sich an der Erdgas-Frage entwickelt. War Russland lange Zeit die größte Gasfördernation, so haben die USA vor allem durch Fracking ihre Produktion seit 2010 von 604 Milliarden Kubikmetern auf 960 Milliarden Kubikmetern im Jahr 2020 ausgeweitet und drücken diese Mengen in den Weltmarkt. In der gleichen Zeit stieg die von Russland gefördert Menge nur um rund 50 Milliarden Kubikmeter auf 638,5 Milliarden Kubikmeter. Die deutschen Monopole, insbesondere die Chemieindustrie, sind von den russischen Gaslieferungen abhängig und haben auch ein großes Interesse an Nordstream 2. Das Erdgas ist der wesentliche Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine, das selbst einer der größten Gasabnehmer ist und ein Großteil des russischen Gases nach Europa fließt durch Pipelines auf ukrainischem Gebiet.
Clausewitz zum Wesen des Krieges
Der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz hat das Wesen des Kriegs so auf den Punkt gebracht: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“7 Was aber ist der Willen Russlands? Was ist der Willen der NATO-Staaten? Der Willen Russlands ist die Zurückeroberung von Gebieten aus dem Machtbereich der sozialimperialistischen Sowjetunion, nicht nur militärisch, sondern vor allem wirtschaftlich und politisch. So will es seinen wirtschaftlichen Rückfall gegenüber anderen imperialistischen Ländern aufhalten. Russland hat als eines der wenigen Länder den Vorkrisenstand der jüngsten Weltwirtschaftskrise wieder übertroffen. Bei der Anzahl der Übermonopole unter den größten 500 ist es aber von ehemals acht im Jahr 2008 auf vier zurückgefallen und liegt damit weit abgeschlagen hinter den meisten imperialistischen Ländern. Neben der staatlichen Sberbank sind dies die staatlichen Öl- und Gaskonzerne Gazprom und Rosneft, sowie die Lukoil-Aktiengesellschaft.
Dauerhafter Weltfrieden – nur eine Vision?
Imperialismus bedeutet Krieg. Und zwar bis zu seinem Untergang, bis zu einer revolutionären Umwälzung zum Sozialismus. Aber zu den wichtigsten Faktoren, ob es zu einem konkreten Krieg kommt oder nicht, gehört eine massive Friedensbewegung. Solch eine verhinderte die deutsche Beteiligung am Irakkrieg 2003 und trug in den USA wesentlich zur Demoralisierung und Niederlage der US-Truppen in Vietnam bei. Entscheidend kommt es darauf an, ob und wie lange die Herrschenden ihr eigenes Volk für den Krieg gewinnen. Darüber schrieb Lenin zum Ausbruch des I. Weltkriegs: „Wenn nicht heute, dann morgen, wenn nicht während des jetzigen Krieges, so nach ihm, wenn nicht in diesem, dann im nächstfolgenden Krieg wird das proletarische Banner des Bürgerkriegs8 nicht nur Hunderttausende klassenbewußter Arbeiter um sich sammeln, sondern auch Millionen jetzt noch durch den Chauvinismus irregeführter Halbproletarier und Kleinbürger, die durch die Greuel des Krieges nicht nur erschreckt und eingeschüchtert, sondern auch aufgeklärt, belehrt, geweckt, organisiert, gestählt und gerüstet werden zum Krieg gegen die Bourgeoisie des ‚eigenen‘ Landes wie auch ‚fremder‘ Länder.“9
Das wurde dann drei Jahre später in der Oktoberrevolution in Russland Wirklichkeit und leitete das Ende des I. Weltkriegs ein. Dauerhaften Weltfrieden kann es nur geben, wenn vereinigte sozialistische Länder der Welt in Solidarität und zum gegenseitigen Nutzen produzieren und austauschen. Dass diese Vision Wirklichkeit wird, dafür schließt die revolutionäre Weltorganisation ICOR10 Parteien und Organisationen auf der ganzen Welt zusammen. Auf der jüngst stattgefundenen 4. Weltkonferenz wurde über die Kriegsgefahr diskutiert und beschlossen, „die Aufklärungsarbeit über den Imperialismus und die Perspektive des Sozialismus zu vertiefen“. Die MLPD hat auf ihrem XI. Parteitag festgestellt, dass die Welt seit Jahrzehnten nicht so nah an einem dritten Weltkrieg war und kritisch-selbstkritisch diskutiert: „Auch wenn sich der Friedenskampf punktuell leicht belebt hat, steht seine mangelnde Stärke und Zielklarheit noch im Widerspruch zu dieser Entwicklung.“11 An der Höherentwicklung des Friedenskampfs muss und wird mit allen friedliebenden Kräften entschlossen gearbeitet werden.