Rote Fahne 08/2022
Warum der Postmodernismus die Arbeiterklasse „verschwinden“ lassen möchte
Rund um den 1. Mai belebt sich unter anderem die Diskussion, ob die Arbeiterklasse allmählich verschwindet und von neuen „postindustriellen“ Strukturen abgelöst wird
In einer Sonderausgabe des FAZ-Feuilletons „Arbeiterklasse 4.0“ konnte man lesen: „Mit der digitalen Transformation scheinen auch die allerletzten Reste einer Arbeiterklasse zu verschwinden … . Dennoch heißt es auch in High-End-Hallen ‚Arbeiter bleibt Arbeiter‘. Allerdings mit einem Selbstbewusstsein, dass sich nicht über rustikale Milieus mit Kneipe oder Stehplatzdauerkarte definiert. Tech-Wissen ist an diese Stelle getreten.“ Autor Ralf Niemczyk weiß erkennbar wenig darüber, wie sich das Klassenbewusstsein der Arbeiter in früheren Zeiten definierte. Immerhin muss er anerkennen, dass auch in modernen Fabrikhallen Arbeiterinnen und Arbeiter tätig sind. Was ist davon zu halten, dass ihr „Tech-Wissen“ heute die entscheidende Produktivkraft sei und sich der Klassengegensatz dadurch aufgelöst habe?
Auflösung des Klassengegensatzes?
Solche Theorien und ihre Wirkung gehen auf die bürgerliche philosophische Strömung der „Postmodernismus“ zurück. So schreibt ihr Theoretiker Jean-François Lyotard: „Man weiß, dass das Wissen in den letzten Dezennien zur prinzipiellen Produktivkraft wurde.“1
Zweifellos gibt es heute große wissenschaftliche Fortschritte. Zur alleinigen Produktivkraft wird das Wissen deshalb noch lange nicht. Was nützen wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn sie nicht letztlich von Arbeitern in Form von Solardächern, Schnellzügen, Teleskopen, Medizintechnik, Smartphones und so weiter in praktische Realität umgesetzt werden? Noch nie ist ein Auto allein durch das Wissen über seine Herstellung entstanden. Dazu braucht es nun mal Menschen, die dieses Wissen verinnerlicht haben und praktisch anwenden. Vor allem erfordert diese Tätigkeit auf der Stufe der heutigen automatisierten Produktion Arbeiterinnen und Arbeiter, die selbst schöpferisch sind, zum Beispiel Roboter und Automaten bedienen und programmieren können. Genausowenig können heute Ingenieure die Produktionsanlagen weiterentwickeln, wenn sie nicht ein Mindestmaß an praktischer Erfahrung der Arbeiter auswerten.
In dem Buch „Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Opportunismus“ setzt sich Stefan Engel überzeugend mit solchen Thesen des Postmodernismus auseinander: „Das Wissen und die Wissenschaft steigern zweifellos die Arbeitsproduktivität, bilden eine Grundlage des Arbeitsprozesses. Produzenten sind aber allemal die Arbeiter, Handwerker und Bauern. Die Ausbeutung der Lohnarbeit ist die hauptsächliche Quelle des Profits der Kapitalisten.“2
„Bunte“ Truppe der Herrschenden?
In Wohlgefallen löst sich für Lyotard konsequenterweise auch die ausbeutende Kapitalistenklasse auf: „Die herrschende Klasse ... wird schon nicht mehr durch die traditionellen politischen Klassen gebildet, sondern von einer bunt aus Unternehmenschefs, hohen Funktionären, Leitern von großen beruflichen, gewerkschaftlichen, politischen und konfessionellen Verbänden zusammengewürfelten Schicht.“3
Da verwechselt Lyotard allerdings die subjektive Einbildung mancher hoher Funktionäre und Verbandschefs mit ihrer realen gesellschaftlichen Stellung. Nicht was sich jemand dünkt, entscheidet über die Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse, sondern die Verfügung über Kapital und Produktionsmittel und die damit verbundene politische Macht.
Nie hat sich das Kapital in weniger Händen konzentriert als heute. Das allein herrschende internationale Finanzkapital besteht aus den etwa 500 größten internationalen Übermonopolen in Banken, Industrie, Handel und Agrarwirtschaft. Es teilt sich seine Herrschaft mit niemandem, weder mit der nichtmonopolistischen Bourgeoisie oder mit kleineren Monopolen, noch mit irgendwelchen Gewerkschaftsführern. Es bedient sich zur Ausübung seiner Herrschaft freilich staatsmonopolistischer Strukturen, in die auch solche Personen entsprechend integriert werden.
Schnell wachsendes Industrieproletariat
Die These von der „aussterbenden“ Arbeiterklasse stellt die Realität auf den Kopf. Tatsächlich wächst das in den Produktionsverbünden der Übermonopole tätige internationale Industrieproletariat sogar schnell an. Es „macht mit 400 bis 500 Millionen Menschen derzeit über zehn Prozent der ungefähr drei Milliarden Erwerbstätigen weltweit aus.“4 (Stand bei Erscheinen des Buches 2011) Am schnellsten wächst seine Zahl in den neuimperialistischen Ländern wie etwa in China, Indien oder Brasilien. Auch in Deutschland nahm die Zahl der Industriebeschäftigten von 7,7 Millionen 2010 auf 8,2 Millionen 2020 zu.5
Die These vom „Verschwinden der Arbeiterklasse“ dient vor allem der Rechtfertigung des Erhalts des Kapitalismus und des kleinbürgerlichen Führungsanspruchs der postmodernistischen Wortakrobaten.